Bedingt durch die Zwänge der Corona-Pandemie spiegelt dieses Gespräch, das im Herbst 2019 geführt wurde, nicht den letzten Stand der Konzertplanung wider: Emanuel Ax wird statt dem 2.Klavierkonzert von Johannes Brahms das 4. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven spielen.
Er spricht mit leiser, sanfter Stimme, liebt es nicht besonders, fotografiert zu werden und macht es überhaupt den Image-Strategen auf dem Klassikmarkt nicht leicht. Auch wenn Emanuel Ax immer wieder betont, wie wichtig es sei, die Musik von Joseph Haydn bis zu John Adams kommenden Generationen zu vermitteln, ist er selbst doch keineswegs ein medialer Hansdampf auf allen Kanälen. Der Pianist liebt es mehr, sich in die Werke von Mozart, Beethoven, Chopin, Schumann, Brahms oder Rachmaninow hineinzugraben – gelegentlich auch mit historischer Spielpraxis. Dabei hat er sich wie wenige Pianisten seines Ranges der Kammermusik und der zeitgenössischen Musik verschrieben, die er bis heute durch Kompositionsaufträge fördert. Dreimal wird er in der kommenden Saison als Artist in Residence zusammen mit dem Gürzenich-Orchester auftreten. Michael Struck-Schloen hat Emanuel Ax zwischen zwei Konzerten in der Alten Oper Frankfurt getroffen.
MS: Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Besuch in Deutschland?
Oh ja, sehr gut, das war 1974. Damals suchte der Geiger Nathan Milstein einen Klavierbegleiter, und man hat mich empfohlen. Ich war 25 Jahre alt, Milstein um die 70 – aber er hat gespielt wie ein junger Mann, einfach unglaublich. So kam ich zum ersten Mal nach München, in den Herkulessaal, in das Land der Musik. Bis heute glaube ich, dass ein Pianist, der die deutsche Musik nicht liebt, seinen Beruf wechseln sollte.
Im Grunde war Ihr Besuch in München eine Rückkehr nach Europa, denn Sie stammen aus dem heutigen Lwiw in der Ukraine.
Zu meiner Zeit hieß es noch Львов( Lwow ) und gehörte zur Sowjetunion; als meine Mutter dort geboren wurde, war die Stadt polnisch und hieß Lwów, und mein Vater kam dort im österreichisch-ungarischen Lemberg zur Welt. Aber es handelte sich immer um denselben Ort! Als ich zehn Jahre alt war, sind wir nach Warschau umgezogen, dann nach Kanada emigriert und zuletzt in New York gelandet.
Ihre Eltern haben das Konzentrationslager überlebt – waren diese schrecklichen Erlebnisse der Grund, Europa zu verlassen?
Ja, ich denke, sie sind gegangen, um diese furchtbaren Erinnerungen an den Krieg loszuwerden – und um nicht hinter dem Eisernen Vorhang leben zu müssen. Für die Ausreise brauchte man die entsprechenden Papiere, das war ungeheuer kompliziert und langwierig. Aber meine Eltern wollten unbedingt in den Westen, auch wenn es in Amerika für meinen Vater nicht einfach war, einen Job als Logopäde zu bekommen, das dauerte seine Zeit.
Ihr Klavierlehrer an der Juilliard School, der Pole Mieczeslaw Munz, war ein Enkelschüler des großen Ferrucio Busoni. Busoni bestand immer darauf, dass zum guten Musiker nicht nur die Noten und das Instrument, sondern auch das Interesse an Kunst, Literatur, Theater gehöre. Sagen Sie das auch Ihren Schülern?
Ich weiß nicht, ob Busoni wirklich recht hatte. Ich kenne fantastische Pianisten, für die nichts außer der Musik existiert. Aber es gibt natürlich Künstler, die an vielem interessiert sind – bis hin zur Politik. Igor Levit zum Beispiel engagiert sich stark politisch, Leonard Bernstein hat das getan, und mein Freund Yo-Yo Ma gibt oft Konzerte vor Leuten, die – um es mal so zu sagen – Einfluss auf die politische Landschaft haben, in Amerika, China, Indien, überall. Er ist überhaupt eine ganz bemerkenswerte Person. Ich sage immer, es gab zwei außerordentliche Glücksfälle in meinem Leben: Der eine war, dass ich meiner Frau (der Pianistin Yoko Nozaki) begegnet bin, der andere, dass ich Yo-Yo Ma getroffen habe. Wir spielen jetzt schon 47 Jahre lang zusammen.
Was schweißt Sie und Yo-Yo Ma so zusammen?
Wir betrachten das Leben mit den gleichen Augen, sorgen uns um dieselben Dinge: dass man gut miteinander umgeht, dass man den Kontakt zur Jugend behält, die Zukunft der Musik nicht aus dem Blick verliert. Da versuchen wir zu helfen. Das ist ja eine erstaunliche Entwicklung, die in den USA noch früher eingesetzt hat als in Europa: Weltberühmte Künstler wie Yo-Yo Ma, Lang Lang oder Sie selbst sprechen mit jungen Leuten und bringen ihnen klassische Musik nahe.
Woran liegt das?
Ich glaube, wir haben irgendwann erkannt, dass sich das Schulsystem verändert hat und sich nicht mehr so stark um die klassische Bildung kümmert wie früher. Heute kann man an einer erstklassigen amerikanischen Universität einen Abschluss als »English Major« machen, ohne jemals einen Kurs über William Shakespeare belegt zu haben. Die klassischen Fächer spielen im Studium immer weniger eine Rolle. Ich empfinde das als Aufforderung an uns Musiker, andere Wege zu finden, um der Jugend klar zu machen, dass Musik wichtig ist für das Leben – und dass man daraus auch einen richtigen Beruf machen kann. In Amerika gibt es ja immer noch diese Haltung, dass man Musiker fragt: Okay, und womit verdienen Sie Ihr Geld?
Hat das Auftreten von Donald Trump das Kulturleben in den USA verändert?
Ich glaube nicht, dass er Kultur und Musik in Amerika so stark beeinflusst hat. Wie Sie wissen, ist unser System ganz anders als z. B. in Deutschland: Bei uns wird die Kultur kaum vom Staat, sondern zum Großteil von Privatleuten finanziert. Manchmal bedauern wir Künstler diese Zurückhaltung des Staates; aber unter den gegenwärtigen politischen Umständen scheint sie mir doch das Beste zu sein.
Eine Brücke zwischen den USA und Europa schlägt auch Ihre Zusammenarbeit mit François-Xavier Roth und dem Gürzenich-Orchester. Im November 2020 werden Sie das 2. Klavierkonzert B-Dur von Johannes Brahms spielen, im Mai 2021 das Klavierkonzert Suspend von Andrew Norman, das erst vor wenigen Jahren komponiert wurde. Beginnen wir mit Brahms, einem Komponisten, dem Sie sehr verbunden sind.
So kann man es sagen.
Warum beschäftigt man sich überhaupt jahrzehntelang mit denselben Stücken?
Also, zunächst einmal stellt Brahms ungeheure intellektuelle Ansprüche. Er musste immer alles anders machen als seine Zeitgenossen, nichts folgt bei ihm den damals gültigen Gesetzen der Musik. Arnold Schönberg hat ihn deshalb so bewundert und in einem berühmten Artikel als »Brahms, den Fortschrittlichen« bezeichnet. Hätte Brahms noch länger gelebt, so vermutete Schönberg, dann hätte er irgendwann zwölftönig komponiert. Das ist der eine Grund, warum ich mich jetzt schon sechs Jahrzehnte lang mit Brahms beschäftige: seine musikalischen Herausforderungen. Der zweite ist, dass ich von Anfang an Kammermusik gespielt habe, mit Yo-Yo Ma vor allem, aber auch mit Isaac Stern, Itzhak Perlman, dem Cleveland Quartet und vielen anderen. Brahms hat ungefähr 25 große Kammermusikwerke komponiert – alle sind populär und gehören zum Repertoire. Das ist wirklich rekordverdächtig! Das Seltsame an Brahms ist, dass er – im Gegensatz zu Schumann oder Tschaikowsky – als Person völlig hinter seinem Werk verschwindet. Das Problem liegt darin, dass die Leute meist den Brahms der späten Jahre vor Augen haben – einen kleinen, dicklichen Mann mit langem Bart, der im Wiener Musikverein residiert, eben den akademischen Brahms. Aber in seiner Jugend war er ein romantischer Wilder! Er identifizierte sich mit dem verrückten Kapellmeister Kreisler aus E. T. A. Hoffmanns Novellen. Oder denken wir an die Liebesaffäre mit Clara Schumann – auch wenn er sie wohl niemals angerührt hat, aus Respekt vor Robert Schumann. All das ist unglaublich romantisch und erinnert an ritterliche Sagen aus dem 11. Jahrhundert.
Erzählt auch das 2. Klavierkonzert von ritterlichen Abenteuern?
Ich weiß es nicht, es gibt ja kein Programm dazu. Ich glaube, Brahms hat mit seinem B-Dur-Konzert auf zwei Werke reagiert, die ihm wichtig waren: auf Beethovens 5. Klavierkonzert, das »Emperor Concerto«, und auf das eigene 1. Klavierkonzert in d-Moll. Es hatte Jahrzehnte zuvor im Leipziger Gewandhaus ein furchtbares Fiasko beim Publiku merlebt, weil es – so behaupten viele – nicht virtuos genug war. Als Antwort darauf geriet dann das 2. Klavierkonzert extrem virtuos.
Ihr Kollege Alfred Brendel spricht sogar von technischen Perversitäten …
Er hat recht! Manches, was Brahms im 2. Klavierkonzert komponiert, ist einfach irrwitzig, begonnen mit der Eröffnungskadenz. Ich weiß nicht, wie er das selbst bei der Uraufführung gespielt hat. Es gibt eine Kritik, in der klar wird, dass Brahms als Pianist mit dem Stück ebenfalls seine Probleme hatte – aber doch spielte »wie ein Mann, der die richtigen Noten genau kennt«. Ist das nicht großartig? Bei uns ist es eigentlich noch genauso: Wenn wir Glück haben, treffen wir 75 Prozent der Töne, an schlechteren Tagen vielleicht 50 Prozent.
Wir haben uns zum ersten Mal vor vielen Jahren bei der Kölner Musik-Triennale getroffen, als Sie das Klavierkonzert »Century Rolls« von John Adams in der Philharmonie vorgestellt haben – ein Beispiel für Ihren regelmäßigen Einsatz für die zeitgenössische Musik in den USA. Jetzt spielen Sie ein Werk von Andrew Norman, der 1979 in Michigan geboren wurde und bei uns noch wenig bekannt ist.
Ich denke, man hat Andrew Norman mittlerweile auch in Europa entdeckt, viele wichtige Orchester haben seine Musik aufgeführt: die Berliner Philharmoniker, das Ensemble Modern, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Und es werden noch mehr werden, denn Norman ist noch jung und äußerst begabt.
FAF (Frei, aber froh)
Johannes BrahmsSuspend, eine Fantasie für Klavier und Orchester, wurde 2014 für das Los Angeles Philharmonic und den Dirigenten Gustavo Dudamel geschrieben, Sie haben das Stück damals uraufgeführt.
In gewisser Weise ja. Aber auch hier spielt Brahms eine Rolle. Ich habe vor einigen Jahren mehrere Komponisten wie Brett Dean, Anders Hillborg oder Nico Muhly gebeten, neue Werke mit einer subtilen Beziehung zu Brahms zu schreiben, Kompositionen, die ich dann zwischen seine Klavierwerke, Cellostücke oder Lieder einfügen konnte. Im Vorwort der Partitur schreibt nun Andrew Norman, dass er sich den Solisten als eine Art Einzelgänger à la Brahms vorstellt, der für sich zu improvisieren beginnt, dabei erst ganz sanfte Klänge und dann ein ganzes Orchester imaginiert, das dann auch allmählich einsetzt. Aber auf dem Höhepunkt droht das Orchester den Pianisten fast aufzufressen! Dabei spielen zwei Tonkonstellationen eine Rolle, die für Brahms und seine Freunde sehr wichtig waren: FAE (Frei, aber einsam), das Motto des Geigers Joseph Joachim, und FAF (Frei, aber froh), Brahms eigenes Motto. Normans » Suspend« habe ich dann an einem Abend mit dem B-Dur-Klavierkonzert von Brahms kombiniert. In Köln werde ich die beiden Stücke in zwei verschiedenen Konzerten spielen und Mozarts Klavierkonzert Nr. 22 an die Seite von Normans »Suspend« stellen!