»Aus Brahms spricht Liebe«
Torsten Janicke, 1. Konzertmeister des Gürzenich-Orchesters, im GesprächMit dem Brahms-Doppelkonzert treten Sie in die Fußstapfen des großen Geigers Joseph Joachim: Ihm ist das Werk gewidmet, er war auch der Violinsolist der Uraufführung 1887 in Köln. Was ist das für ein Gefühl?Das ist ein gewisser Druck! In seiner Zeit war Joseph Joachim einfach der Geiger schlechthin! Er war mit den musikalischen Größen seiner Zeit zusammen, hat mit ihnen gespielt, mit Brahms, mit Schumann, war also damals die absolute Koryphäe. Man wird insofern nie schaffen, was er geschafft hat. Aber man gibt sich natürlich Mühe ... [lacht].
Sind Sie denn sicher, dass Joseph Joachims Kunst wirklich derartig überragend war?Wenn man all dem Glauben schenkt, was Zeitgenossen über ihn geschrieben haben: ja! Mit Brahms hat er voller Akribie zusammengearbeitet, beim Violinkonzert besonders, aber auch beim Doppelkonzert. Er hat Verbesserungen eingefügt, die geigerisch noch geschickter sind, ohne die Idee der Komposition in irgendeiner Weise zu verwässern. Vom Violinkonzert gibt es ein Partitur-Faksimile, in dem gut zu sehen ist, welche Korrekturen von Brahms und welche von Joachim sind. Daran kann man sehr gut sehen, wie intensiv dieses Miteinander gewesen ist.
Für Ihre Interpretation sind also Joseph Joachims Anregungen und Änderungen ebenfalls wichtig ...
Die Anregungen betreffen bestimmte Tonfolgen, die in den Noten ja bereits vorgegeben sind. Joseph Joachim hat daran minimale Details, beispielsweise gewisse Bindungen oder ähnliches, geändert, sodass solche Passagen geigerisch dann einfach besser liegen. Interpretatorisch allerdings kann man daraus keinen Schluss ziehen. Auch weiß ja leider niemand von uns, wie die Uraufführung tatsächlich gewesen ist.
Welche Beziehung haben Sie zu dem Stück?
Ähnlich wie auch das Violinkonzert von Brahms ist das Doppelkonzert ein Orchesterwerk mit obligaten Soloinstrumenten. Wenn man das Stück nur von der Violinstimme aus betrachtet, teile ich die Meinung vieler Musiker und Hörer, dass es vielleicht etwas spröde ist. Aber – und das ist auch der Grund dafür, dass ich den Wunsch hatte, mit dem Gürzenich-Orchester gerade dieses Konzert zu spielen – es ist eine Art von Kammermusik! Es geht hier explizit nicht darum, dass ein Solist wie ein Leuchtturm an der Rampe strahlt. Vielmehr steht im Zentrum ein besonders intensives Miteinander. Und genau das wollte ich mit dem Gürzenich-Orchester, das ja »mein« Orchester ist, umsetzen. Das war mein Gedanke. Meine Solostimme, genau wie die des Violoncellos, agiert in stetiger Korrespondenz mit dem Orchester.
Spielte das Doppelkonzert in Ihrem Repertoire bis jetzt eine Rolle?
Im Gegensatz zu vielen anderen Violinkonzerten habe ich das Doppelkonzert tatsächlich bis jetzt nur zweimal gespielt. Einmal beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Leipzig, danach vor einigen Jahren ein weiteres Mal, und zwar ebenfalls mit Bonian Tian, der ja jetzt wieder mein Partner ist.
Die klassische Frage: Mögen Sie Brahms?
Wer mag ihn nicht? Brahms ist für mich einer der allergrößten Komponisten. Mit seinem Komponieren hat er sich’s extrem schwer gemacht. Es ist für mich völlig klar, dass all das, was er geschrieben und dann wieder verworfen und weggeworfen hat, wahrscheinlich große Kunst war. Brahms war einfach ausgesprochen kritisch sich selbst gegenüber. Das, was er dann schließlich akzeptiert und veröffentlicht hat, das ist absolut genial. Für mich ist das Wunderbare an Brahms: Man kann die Werke immer wieder spielen – und jedes Mal entdeckt man etwas Neues. Das, was er komponiert hat, ist so unglaublich vielschichtig. Beim Brahms-Violinkonzert hatte ich immer das Gefühl einer Bergwanderung: Man steigt hinauf zu einem Kamm und glaubt dort, die Göttlichkeit zu sehen. Gleichzeitig weiß man aber, dass man nie ans Ziel kommt, sondern sich diesem Ziel höchstens ein Stückchen weiter annähert. Letztlich offenbart sich bei ihm nicht nur eine große Wärme, sondern auch die Liebe, die in dieser Musik steckt, diese unglaubliche Tiefe, auch im Schmerz. All dem fühle ich mich sehr nahe.
Gab es in Ihrer Karriere als 1. Konzertmeister des Gürzenich-Orchesters für Sie herausragende Musikerlebnisse?
Da gibt es eine ganze Menge. Unvergesslich ist für mich Richard Wagners »Ring«, den wir in Köln und in Shanghai gespielt haben. Ich denke auch an ein Konzert mit Gustavo Dudamel – oder an die »Soldaten« von Bernd Alois Zimmermann, die wir im Februar 2022 konzertant erneut aufführen.
Hatten Sie manchmal Angst, den enormen Anforderungen des Musikerlebens nicht zu genügen?
Das ist wohl ein Gefühl, mit dem sich jeder Musiker auseinandersetzen muss. Gerade auf einem Konzertmeister lastet ein besonderer Druck, die Erwartungshaltung aller ist hoch. Entweder, man lässt sich darauf ein – oder eben nicht. Mir ganz persönlich schadet Druck bis zu einem gewissen Maße nicht. Ich habe einen gewissen musikalischen Ehrgeiz, einen Anspruch an Perfektion. Beides ist in meiner Position notwendig, damit ich als Konzertmeister eine Ausstrahlung auf das Orchester haben kann. Sie würde in dem Moment verschwinden, in dem ich gleichgültig werde.
Kennen Sie Lampenfieber?
Oh ja ... ich denke da zum Beispiel an eine wundervolle »Matthäus-Passion« in der Kölner Philharmonie mit Peter Schreier als Evangelist ... vor der großen Alt-Arie mit Solo-Violine »Erbarme dich« überkam mich plötzlich eine fürchterliche Nervosität. Da half nur tief durchatmen, glücklicherweise ging dann alles gut. Lampenfieber ist ja nicht gerade das schönste Gefühl, und ich bin einfach nicht der eiskalte Typ, den das alles völlig gleichgültig lässt.
Was lieben Sie an Ihrem Beruf am meisten?
Ich finde es wunderbar, wie man sich mit seinem Beruf emotional ausdrücken kann – und damit automatisch für ein inneres Gleichgewicht sorgt. Musik hat eine so unglaubliche Kraft. Als ich zum Beispiel „Götterdämmerung“ spielte, die lang, technisch extrem schwer und anstrengend ist, habe ich nach dem 3. Akt einfach nicht verstanden, warum ich jetzt aufhören musste. Ein Flow, ein Rausch, eine Droge vielleicht, so könnte man das wohl bezeichnen ...
Und was bringt Sie auf die Palme?
Musik-Bürokratie. Unvernunft. Unprofessionalität.
Was verändert sich in Ihnen im Moment des Musikmachens?
Wie gesagt: Es geht durchaus in Richtung Rausch. Im allerbesten Fall dringt man in eine andere Welt ein. Zum Glück ist diese Welt nicht erklärbar. Ich finde es kontraproduktiv, dass allerorten die Erwartung an das Konzertpublikum besteht, Musik stets intellektuell zu verstehen. Es ist meine Aufgabe als Musiker, das, was ein Komponist geschrieben hat, möglichst in seinem Sinne umzusetzen. Das Publikum aber sollte völlig unbefangen die Musik in sich aufnehmen, sich die Frage stellen: »Was passiert mit mir?« Für mich persönlich geht im Moment zu großer intellektueller Analyse das Besondere an Musik kaputt. Musik hat eine Sprache, die nicht logisch erklärbar ist. Ich wehre mich innerlich dagegen, alles erklären zu müssen. Warum liebt man einen Menschen? Man sagt, dafür muss die Chemie stimmen. Aber was heißt das schon? Wenn man versucht, solche Geheimnisse zu entschlüsseln und zu analysieren, fällt ihr Zauber von ihnen ab. Genauso ist es auch bei Musik. Das Unergründliche muss erhalten bleiben.
Gibt es in Ihrem Leben Momente ohne Musik?
Aber ja! Ich höre zu Hause relativ wenig oder im Auto so gut wie nie Musik. Und wenn ich mal Urlaub mache, dann sicher ohne Musik. Die Ohren müssen da frei sein, um dann wieder aufnahmefähig zu sein.
Wie hat Ihre Musikerkarriere generell Ihr Wesen und Denken beeinflusst?
Es hat mich immer schon beglückt, nach einem Konzert glückliche Gesichter zu sehen. Je älter man wird, desto mehr reflektiert man, wie wichtig dieser emotionale Ausgleich für die Menschen ist. Bei mir fördert das eine größere Sensibilisierung gegenüber anderen Menschen und der Umwelt. Musik ist übrigens nur ein Teil des Lebens. Es wäre schade, wenn sie alles wäre, das Leben ist so bunt.
Hat die Corona-Zeit Ihr persönliches Verständnis von Musik verändert?
Es hat mich erschreckt, wie leicht der Hunger nach Musik bei Menschen durch Angst reduziert wird. Trotz inzwischen wirklich perfekter Sicherheitsmaßnahmen schaffen viele den Rückweg zur Musik, ins Konzert noch nicht. Ich finde es beängstigend, wie leicht da das logische, vernünftige Denken außer Kraft gesetzt wird. Da ist es wunderbar, wieviel gerade vom Gürzenich-Orchester und der Kölner Philharmonie unternommen wird, um dem Publikum zurückzuhelfen zur Musik. Ich meine, dass die Bedeutung von Musik gerade jetzt größer ist als vor der Krise.
Was müssen wir über Torsten Janicke wissen, wenn er nicht Geige spielt?
Einerseits macht mir das Unterrichten an der Hochschule in Köln viel Spaß, andererseits betätige ich mich beispielsweise handwerklich sehr gerne! Aus Alt mach Neu ...Upcycling … Und damit liege ich ja auch derzeit voll im Trend, oder? [lacht] Ich habe Möbel gebaut und restauriert, das liegt mir. Auch ganz wichtig: Ich bin wahnsinnig gerne draußen in der Natur, unternehme zum Beispiel gern in den Alpen verrückte Hütten-Touren und hoffe, bald wieder größere Reisen machen zu können.
Das Interview führte Volker Sellmann