Olga Neuwirth ⎮ Johannes Brahms ⎮ Márton Illés

Mit Kirill Gerstein (Klavier) und François-Xavier Roth

Programm

Olga Neuwirth
»Spraying Sounds of Hope« (2020) Dished up for Brass Ensemble and Percussion. Uraufführung*

Johannes Brahms
Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll (1854–57)

Márton Illés
TÉR-SZÍN-TÉR (2020) für Orchester. Uraufführung

Kirill Gerstein Klavier
SWR Experimentalstudio Live-Elektronische Realisation
Thomas Hummel Klangregie
François-Xavier Roth Dirigent

*Ein Kompositionsauftrag des Gürzenich-Orchester Köln, gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung. Mehr dazu

Das Konzert in Kürze

Die Tinte auf dem Manuskript seiner vierten Sinfonie ist noch feucht, als Johannes Brahms im Februar 1886 das Gürzenich-Orchester im Konzert leitet. Neben seiner brandneuen Sinfonie bringt Brahms einige seiner bekanntesten Werke mit,darunter: sein 1. Klavierkonzert. Brahms, ein gefeierter Pianist seiner Zeit, läßt es sich nicht nehmen, diesen Tasten-Kraftakt den Kölnern höchstpersönlich Solist vorzustellen.

Wenn der gefeierte Tastenvirtuose Kirill Gerstein sich gemeinsam mit François-Xavier Roth im Konzertstream heute diesen Koloss der Konzertliteratur vornimmt, steht das Stück erneut im Kontext brandneuer Musik: Marton Illés hat für sein neues Orchesterstück »Tér-szín-tér« das Gürzenich-Orchester Corona-konform im gesamten Raum der Kölner Philharmonie verteilt. Seine »Raumszene« versetzt den Saal in intensive Schwingungen, der Orchesterklang wird durch zwei mikrotonal gestimmte E-Pianos unterwandert und der Saal erhält eine neue Perspektive.

Den Auftakt zum neuen Jahr gibt ein weiteres Stück aus unserer Reihe »Fanfares for a new Beginning«: Olga Neuwirth verbreitet »Klänge der Hoffnung« in ihrem Stück »Coronation V« für Bläser und Schlagzeug.

Biografien

  • Márton Illés

      »Márton Illés schreibt eine Musik, in der sich Kalkül und Risiko präzise ausbalanciert die Waage halten. Die Emotionalität ist stets in ein verbindliches Struktur-Ganzes eingelassen; die Rationalität ist konfrontiert mit geschärfter Klangkraft und Ausbruchsenergie. So gelingt es ihm in jungen Jahren, zu einer verbindlichen Aussage zu gelangen, die gelassen aus sich selbst zu wirken in der Lage ist, ohne sich irgendeiner Tagesmode versichern zu müssen.«

      Kein Geringerer als Wolfgang Rihm charakterisierte so seinen 1975 in Budapest geborenen jungen Kollegen und ehemaligen Studenten Márton Illés. Er verkörpert in besonders eindrucksvoller Weise das Phänomen musikalischer Mehrfach-Begabung, tritt er doch als Pianist, Dirigent und Komponist weltweit gleichermaßen erfolgreich in Erscheinung. Nach einer musikalischen Ausbildung in Basel und Karlsruhe sowie als Pianist u. a. beim »Klavier-Papst« Karl-Heinz Kämmerling in Hannover wurde Illés als Stipendiat in die Villa Massimo in Rom (2009), in die Villa Concordia Bamberg (2011) und 2012 ins Civitella Ranieri Center nach Umbrien eingeladen.

       

      Sein bisheriges Schaffen umfasst Kompositionen für Soloinstrumente, Streichquartette und Vokalwerke, außerdem Ensemblekompositionen, Elektroakustische Kompositionen, zwei Musiktheaterstücke, Werke für Streichorchester und großes Orchester. Die Werke von Márton Illés werden bei namhaften internationalen Festivals und an prominenten Adressen wie dem Konzerthaus Berlin, bei der Münchener Biennale, beim Schleswig Holstein Musikfestival, dem Tokio Summer Festival oder den Wittener Tage für Neue Kammermusik aufgeführt.

      Genauso wie Johannes Brahms in seinem 1. Klavierkonzert trat Márton Illés als Solist in der Uraufführung seines Klavierkonzerts Rajzok II auf, die 2011 zusammen mit den Bamberger Symphonikern unter Jonathan Nott in der Kölner Philharmonie stattfand. Der Künstler erhielt 2005 den Christoph und Stephan Kaske-Preis, 2008 den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung, außerdem den Schneider-Schott-Preis und den Paul-Hindemith-Preis.

  • Olga Neuwirth

      Die Österreicherin Olga Neuwirth ist derzeit einer der weltweit am meisten gefeierten Stars in der Komponisten-Szene. Sie gilt als mutig, experimentierfreudig, manchmal unbequem, aber stets klug und überschäumend kreativ. Die Verbindung klassischer Traditionen und Strukturen mit dem Kosmos elektronischer Klänge charakterisiert viele ihrer Werke. Ihr Studium absolvierte Neuwirth in San Francisco und Wien, ihre kreative Inspiration erfuhr sie durch frühe Begegnungen mit Adriana Hölszky, Tristan Murail und Luigi Nono. Erst 22 Jahre alt war die Komponistin, als ihr 1991 mit ihren beiden Mini-Opern nach Texten von Elfriede Jelinek der internationale Durchbruch gelang: ein Startschuss, der seither eine ununterbrochene Reihe spektakulärer Erfolge nach sich zog. So präsentierten 1998 die Salzburger Festspiele die junge Komponistin, die Wiener Festwochen brachten ein »Musiktheater« Neuwirths (wiederum nach einem Text Elfriede Jelineks) heraus. Neuwirth war composer in residence bei den Luzerner Festwochen. Bis heute ist es die Crème de la crème der internationalen Orchester und Festivals, die Olga Neuwirth um Kompositionen bittet, u. a. das London Symphony Orchestra, die Wiener Philharmoniker und nun das Gürzenich-Orchester Köln, das bei Neuwirth für seine Reihe »Fanfares for a New Beginning« ebenfalls ein Werk in Auftrag gab.

      Klanginstallationen, Ausstellungen, Theater- und Filmmusiken Olga Neuwirths waren auf der documenta 12 in Kassel zu erleben. Das inzwischen umfangreiche Schaffen der Komponistin wurde mit vielen der renommiertesten Kompositionspreisen ausgezeichnet. Einen der ganz großen jüngeren Erfolge Olga Neuwirths repräsentiert die umjubelte Uraufführung ihrer Oper Orlando (nach dem Roman von Virgina Woolf) im Dezember 2019 an der Wiener Staatsoper. Neuwirth war zudem die erste Frau überhaupt, die einen Kompositionsauftrag dieses berühmten Hauses erhielt.

  • Kirill Gerstein

      Der Pianist Kirill Gerstein, 1979 im russischen Woronesch geboren, begann seine Ausbildung im Alter von drei Jahren. Von Kindheit an war Gerstein ein musikalischer „Wandler zwischen den Welten“ der Klassik und des Jazz. Er besuchte in seiner Heimatstadt eine Musikschule mit dem Schwerpunkt klassisches Klavier und beschäftigte sich gleichzeitig intensiv mit den Jazzplatten seiner Eltern. In Polen − während eines Bach-Klavierwettbewerbs, den er 10-jährig gewann − kam Gerstein zum ersten Mal mit live gespieltem Jazz in Kontakt. Im Alter von 12 Jahren lernte er beim Jazz-Festival in Sankt Petersburg Gary Burton kennen. Burton unterstützte den jungen Musiker und verhalf ihm, als jüngstem Schüler aller Zeiten, zu einem Studium am Berklee College of Music in den Vereinigten Staaten. Gerstein studierte dort drei Jahre Jazz, verlor aber die klassische Musik nicht aus dem Auge. Als ihm klar wurde, dass er dauerhaft nicht beide Musikstile mit der gleichen Intensität studieren konnte, wechselte er kurz vor dem Abschluss an die Manhattan School of Music, um sich ganz der Klassik zuzuwenden. Mit 20 Jahren schloss er sein Studium mit dem akademischen Grad Master ab. Anschließend absolvierte er Meisterkurse bei Dmitri Baschkirow in Madrid, und bei Ferenc Rados in Budapest.

      Bereits als Student debütierte Gerstein im September 2000 auf einer der großen europäischen Konzertbühnen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter David Zinman.

      Gersteins Repertoire reicht von der Klassik bis zur Moderne und schliesst auch den Jazz mit ein. In den USA spielt er regelmäßig u.a. mit dem Chicago Symphony Orchestra, dem Saint Paul Chamber Orchestra, dem Cleveland Orchestra sowie dem New York Philharmonic. Gemeinsame Auftritte mit den Münchner Philharmonikern, dem NDR Sinfonieorchester, dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg und den Nürnberger Symphonikern. Zu den Dirigenten, die mit Kirill Gerstein seit langem musizieren, gehören u.a. Charles Dutoit und Semyon Bychkov, mit dem er 2013 bei den Wiener Philharmonikern und 2014 beim Gewandhaus Leipzig gastiert. Als Kammermusiker spielte Kirill Gerstein Aufnahmen mit Tabea Zimmermann ein, spielt im Duo mit Steven Isserlis und bildet er mit Clemens Hagen und Kolja Blacher ein festes Klaviertrio. Mit András Schiff verbindet ihn eine enge musikalische Freundschaft. An der Oper Stuttgart ist Kirill Gerstein 2014/15 Solist beim 7. Sinfoniekonzert.

      2016 konzertierte Gerstein erstmals mit den Berliner Philharmonikern, nachdem er in den Jahren zuvor bereits mit den renommierten Orchestern, dem Concertgebouw, den Wiener, den Los Angeles, den New Yorker, den St. Petersburger, den Tschechischen, den Münchner und den Rotterdamer Philharmonikern, dem London und dem Chicago, Boston und dem San Francisco Symphony Orchestra, dem Leipziger Gewandhausorchester sowie den Staatskapellen Dresden und Berlin aufgetreten war. Gerstein gastiert regelmäßig beim Festival d’Aix-en-Provence, dem Lucerne und dem Verbier Festival, dem Jerusalem Chamber Music Festival und bei den Proms in London. Sein Debüt bei den Salzburger Festspielen hatte er 2008.

      Er ist Preisträger des Arthur-Rubinstein-Wettbewerbs in Tel Aviv 2001 und des Gilmore Young Artist Award 2002. 2005/06 war er „Rising Star“ der New Yorker Carnegie Hall. Er erhielt den Avery Fisher Career Grant 2010. 2010 erhielt Gerstein den hochdotierten Gilmore Artist Award.

      Gersteins Debütalbum mit Werken von Bach, Beethoven, Skrjabin und Gershwin/Wild wurde 2004 von OehmsClassics veröffentlicht. Nach seinem Wechsel zum Musiklabel Myrios Classics erschien 2010 eine zweite Aufnahme mit Werken von Schumann, Knussen und Liszt. Die Musikkritiker der New York Times zeichneten den Tonträger als eines der Alben des Jahres 2010 aus. Für die Aufnahme Tchaikovsky, Prokofiev: Klavierkonzerte mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter James Gaffigan erhielt Gerstein 2015 den ECHO Klassik in der Kategorie Konzerteinspielung des Jahres.

      Seit 2003 besitzt Gerstein neben der russischen auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. 2007 übernahm er eine Professur an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart.

  • Das SWR Experimentalstudio

      Das SWR Experimentalstudio versteht sich als Schnittstelle zwischen kompositorischer Idee und technischer Umsetzung. Jährlich werden mehrere Komponist*innen zu einem Arbeitsstipendium eingeladen, um dann im Diskurs mit den Mitarbeitern des Studios ihre Werke zu realisieren. Neben der Herstellung dieser ist es als Klangkörper auch bei den Aufführungen aktiv. Mit bald 50 Jahren Präsenz im internationalen Musikbetrieb hat es sich als der führende Klangkörper für Werke mit Live-Elektronik etabliert und konzertiert fortwährend bei nahezu allen bedeutenden Festivals (Berliner Festwochen, Wiener Festwochen, Salzburger Festspiele, Festival d’Automne à Paris, Biennale di Venezia etc.) wie auch in etlichen renommierten Musiktheatern (u. a. Teatro alla Scala Mailand, Carnegie Hall New York, Théâtre de la Monnaie, Teatro Real Madrid). Zu den herausragenden Produktionen in der Geschichte des Experimentalstudios gehören Arbeiten so bedeutender Komponisten wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, und Luigi Nono, wobei letzterer nahezu sein gesamtes Spätwerk in enger Verbundenheit mit dem Studio erstellt hat. Nonos »Hörtragödie« Prometeo ist nach der UA 1984 mittlerweile mehr als 80 Mal durch das Experimentalstudio realisiert worden und kann als Meilenstein der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Aus der jüngeren Generation sind insbesondere Mark Andre, Chaya Czernowin und Georg Friedrich Haas als die Komponisten aufgefallen, welche zukunftweisende Werke im Experimentalstudio hervorgebracht haben. Unter den Interpreten, die mit dem Studio in Verbindung stehen, finden sich herausragende Musikerpersönlichkeiten wie Mauricio Pollini, Claudio Abbado, Peter Eötvös, Daniel Barenboim, Gidon Kremer, Carolin und Jörg Widmann, Irvine Arditti und Roberto Fabbriciani. Für seine exemplarische Arbeit wurde das Experimentalstudio international mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik für die Produktion von Werken Luigi Nonos. Nach Hans-Peter Haller und André Richard ist seit 2006 Detlef Heusinger künstlerischer Leiter des Experimentalstudios.

Das digitale Programmheft

  • Johannes Brahms 1. Klavierkonzert

      Johannes Brahms Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 d-Moll op. 15 1854–57

      Maestos
      Adagio
      Rondo: Allegro non troppo

      Schon die Leipziger Erstaufführung des 1. Klavierkonzerts von Johannes Brahms irritierte das Publikum derart, dass es mit eisiger Kälte und feindseligem Zischen reagierte. Die Musikkritik legte unbarmherzig nach: »Dieses Würgen und Wühlen, dieses Zerren und Ziehen, dieses Zusammenziehen und Wiederauseinanderreißen von Phrasen und Floskeln muß man über drei Viertel Stunden lang ertragen!« Zwar gab es freundlichere Stimmen aus dem Lager des musikalischen Fortschritts, die das neue Konzert als »unverkennbares Zeichen einer bedeutenden Schöpfungskraft von echt poetischer Ursprünglichkeit« vor den Leipziger Philistern in Schutz nahmen. Doch für den jungen Komponisten, der an seinem ersten großen Orchesterwerk vier Jahre lang gefeilt hatte, stürzte eine Welt zusammen.

      Die schroffe Reaktion der Leipziger zeigt schon, dass das Konzert op. 15 nicht in die zeitgenössische Reihe gefällig dahinplätschernder Virtuosenpiècen passte, die man ‒ mit gewichtigen Ausnahmen bei Schumann, Mendelssohn oder Liszt ‒ von den gemischten Programmen jener Zeit gewohnt war. Schon Robert Schumann, der wichtigste Mentor des jungen Brahms, erkannte in dessen Klavierwerken ausbaufähiges Potenzial. »Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien ...«

      Die Verwandtschaft von Klavier- und Orchestermusik, die Schumann den Werken des jungen Brahms in seinem berühmten Zeitschriften-Artikel Neue Bahnen attestierte, ist auch im 1. Klavierkonzert deutlich spürbar. Führt dessen komplexe Entstehungsgeschichte doch von einer Sonate für zwei Klaviere (die Brahms oft zusammen mit Clara Schumann spielte) über die Umarbeitung des ersten Satzes zu einem Sinfoniebeginn bis hin zur endgültigen Form eines Konzerts für Klavier und Orchester.

      Anfang 1859 konnte Brahms als Klavier-Solist das fertige Werk unter der Leitung von Joseph Joachim in Hannover uraufführen. Und noch heute, wo das Konzert längst zum Schlachtross der Pianisten geworden ist, scheint man ihm die komplizierte Entstehung, die inneren Kämpfe, die Brahms bei der Schaffung dieses monumentalen Meisterwerks auszufechten hatte, anzumerken.

      Michael Struck-Schloen

  • Márton Illés »Tér-szín-tér« für Orchester

      Márton Illés
      Tér-szín-tér für Orchester
      2020
      Uraufführung

      Ein Kompositionsauftrag des Gürzenich-Orchester Köln, gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung

      Was bei seinen Werken zuerst ins Ohr springt, ist die tönende Kraftentladung. Die Musik von Márton Illés wirkt oft wie ein Überfall ‒ auf das Publikum, aber auch auf den Raum, der unter schwingenden, berstenden, schiebenden und atmenden Klängen zum Leben erweckt wird. Illés ist ein Magier des Unerhörten und zugleich ein raffinierter Dompteur dieser Klänge, wobei er selten technische Hilfsmittel (Stichwort: Live-Elektronik) braucht, sondern sich ganz auf die Körperlichkeit von Musik, auf das Spiel zwischen Einzeltönen und Massenereignissen konzentriert. Der Raum, in dem dies stattfindet, ist für ihn deshalb immer eine kreative Herausforderung; und selbst die behördlichen Auflagen für das Musizieren in der Corona-Pandemie können ihm ein Anreiz sein, über das Verhältnis von Individuen und Masse in Zeiten des »social distancing« neu nachzudenken.

      Das ungarische Wort »tér« (Raum), das in vielen Werktiteln der letzten zehn Jahre auftaucht, ist für Márton Illés Programm: Wie lässt sich dieser Raum, etwa die Arena der Kölner Philharmonie, zum Klingen bringen ‒ und andererseits Musik als Abbild eine idealen Gesellschaft verstehen? Das Ergebnis dieses neuen, freiheitlichen Zusammenspiels wendet sich nicht mehr primär an den Kopf, sondern an den ganzen Körper des Hörers: durch organische, körperhafte Prozesse, die dem Publikum ermöglichen sollen, »sich selbst wiederzuerkennen in meiner Musik«, wie es Illés ausdrückt. Dafür ist er abgerückt von der der »groben Verpixelung« des musikalischen Raumes, wie sie das traditionelle europäische Tonsystem seit Jahrhunderten durch die Festlegung der Tonhöhen unternimmt. Das Gegenmodell ist die fließende Linie, die alle Zwischenräume ausfüllt und vom Prinzip der Anspannung und Entspannung geleitet wird, die starre Töne und Zusammenklänge auflöst durch ständige Übergänge im Klangraum. Márton Illés wurde 1975 in Budapest geboren und genoss in seiner Jugend in Ungarn das einmalige Prinzip einer nach dem Komponisten und Pädagogen Zoltán Kodály benannten Ausbildung, die allgemeine Schulbildung und Musikunterricht eng verzahnt. Seit 1997 studierte Illés an der Musikakademie Basel Klavier (bei László Gyimesi) und Komposition (beim Ligeti-Schüler Detlev Müller-Siemens), es folgten vier Jahre Aufbaustudium bei Wolfgang Rihm an der Musikhochschule in Karlsruhe, wo Illés dann von 2005 bis 2018 selbst unterrichtete. Stipendienaufenthalte an der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom und am Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg schufen kreative Freiräume; heute werden Illés’ Werke bei internationalen Festivals für neue Musik und in den Konzertsälen auf der ganzen Welt aufgeführt.

      Michael Struck-Schloen

  • Interview mit Márton Illés

      »Da musste ich alles komplett umdenken«

      Márton Illés im Gespräch mit Michael Struck-Schloen

      Márton, Deine Werke stehen in Köln regelmäßig auf den Programmen: 2011 hast du mit den Bamberger Symphonikern das Klavierkonzert »Rajzok II« in der Philharmonie herausgebracht, das Kölner Asasello-Quartett hat deine Streichquartette im Repertoire, vor einem Jahr hat Patricia Kopatchinskaja im WDR-Funkhaus das Violinkonzert »Vont-tér« uraufgeführt. Dein neues Werk »Tér-szín-tér« ist jetzt ein Kompositionsauftrag des Gürzenich-Orchesters, der von der Ernst von Siemens Musikstiftung unterstützt wurde. Das klingt nach einem großen Projekt ...

      Das sollte es auch werden, denn ursprünglich war ein großes Orchesterstück vorgesehen. Dann kam Corona, und das Gürzenich-Orchester hat mich gefragt, ob ich mich in dem neuen Stück den Abstandsregeln und Hygieneauflagen anpassen könnte ‒ durch die Verkleinerung der Besetzung auf die Hälfte und die Verteilung der Instrumente im Raum. Da musste ich alles komplett umdenken und habe eine Raumkonzeption entworfen. Das Publikum ‒ das es jetzt leider nicht geben wird ‒ würde sich idealerweise mitten im Saal befinden und ist dort umgeben von Holz- und Blechbläsern auf den Rängen und Balkons der Philharmonie. Auf der Bühne gibt es 23 Streicher, Schlagzeug und zwei E-Pianos.

      Hat diese Aufteilung im Raum Einfluss auf die Musik von „Tér-szín-tér“?
      Natürlich, ich habe eine sehr intensive Raumbewegung der Klänge geplant und hoffe, dass man das auch im Live-Stream verfolgen kann. Es gibt einen klaren harmonischen Zusammenhang des Orchesters, aber durch die Entfernung der Instrumente wirkt die Musik wie zerfranst. Das Stück beginnt mit besonderen, seltsam flatternden Mehrklängen von zwei Flöten. Diese Klangeffekte und ihre Erzeugung ich selbst erfunden habe ‒ wobei die eine Flöte hoch über dem Orchester, die andere hinter dem Publikum spielt. Die Klangereignisse sind also meist räumlich weit getrennt, sodass man sie gut verfolgen kann. Außerdem spielen zwei Hörner von außerhalb des Saales, was eine weitere Perspektive öffnet. Welche Rolle spielen die beiden E-Pianos?

      Die bringen die Klänge zum »Schielen«. Beide E-Pianos sind um einen Viertelton höher gestimmt als die übrigen Instrumente. Und wenn am Beginn des zweiten Satzes ein E-Piano mit dem Vibraphon zusammenspielt, dann ergibt das diesen eigentümlich »schielenden« Klang.

      Der zweite Satz entwickelt sich nach dieser Einleitung fast zu einem Streicherstück ‒ die Noten dazu wirken mit ihren Akkordtürmen und vielen Verbindungslinien für die Tonschleifer wie ein grafisches Kunstwerk. Aber auch die Musik erscheint hier sehr körperlich.
      Das stimmt, es gibt da sehr schroffe Gesten und körperhafte Klänge. Aber letztlich kommt alles in meiner Musik aus körperlichen Reflexen ‒ aus einer plötzlichen Geste des Armes, aus muskulären Äußerungen von Freude, Erschrecken oder Schmerz. Solche Reflexe sind Abfolgen von kurzen, komplexen An- und Entspannungsvorgängen im Körper. Diese Verläufe interessieren mich.

      Es gibt von dir schon mehrere Werke, die im Titel das ungarische Wort »tér« führen ‒ jetzt taucht es gleich zweimal auf: »Tér-szín-tér«.
      »Tér« bedeutet »Raum«, »szín-tér« so viel wie Szene, Schauplatz oder Farbraum. Deshalb gibt es hauptsächlich Orchesterstücke mit diesem Titel, bei denen das perspektivische Hören eine wichtige Rolle spielt. Frühere Orchesterstücke hießen etwa Víz-szín-tér (Wasserszene mit fließenden »Wassertexturen«), Ez-tér (ein Raum, der das freudianische »Es« erkundet) oder Vont-tér (gestrichener Raum das Violinkonzert). Der Titel Tér-szín-tér rückt durch die Verdoppelung den Raum noch mehr ins Zentrum ‒ für den Komponisten genauso wie für das Publikum. Ich denke beim Komponieren meist räumlich-perspektivisch, arbeite mit dem Wechsel von Einzelspielern und Masse, von ganz mageren Klang-Körpern, die im Kontrast stehen zur Masse, zur großen Perspektive. Meine Musik ist nie statisch, sondern immer flexibel, ständig in Bewegung ‒ wie die Natur.

  • Olga Neuwirth »CoronAtion V«

      Olga Neuwirth
      »CoronAtion V: Spraying Sounds of Hope« dished up für Brass Ensemble and Percussion 2020 Uraufführung

      Ein Kompositionsauftrag des Gürzenich-Orchester Köln, gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung

      Mit dem heutigen Konzert knüpft das Gürzenich-Orchester Köln an seine lange und verdienstvolle Tradition als Auftraggeber von Kompositionen an. Sowohl das Werk von Olga Neuwirth als auch Márton Illés’ Tér-szín-tér entstanden auf diese Weise und werden heute uraufgeführt.

      Seit Beginn der aktuellen Saison akzentuiert das neue Projekt »Fanfares for a New Beginning« die Konzertprogramme: Das Gürzenich-Orchester und Chefdirigent François-Xavier Roth gaben bei namhaften zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten kurze Werke in Auftrag. In deren inhaltlichem Zentrum sollen die momentane Pandemie-Situation mit all ihren Auswirkungen und sozialen Veränderungen stehen. Zugleich knüpft die Themenstellung musikhistorisch an die Tradition von Blechbläsern, von Fanfaren, als Signalgeber an, durch deren Klang Kommunikation auch über größere Distanzen hinweg möglich ist. Nicht zuletzt setzt »Fanfares for a New Beginning« auch ein hoffnungsvolles Zeichen für eine neue Zeit, in der sich Kunst und Gesellschaft ihrer Untrennbarkeit mehr bewusst sein können als im Augenblick.

      »Von Kindheit an hat mich einfach alles interessiert. Von Kunst und Politik bis hin zu Wissenschaft und Psychologie. Leidenschaftlich war ich gegenüber allem«, bekennt die österreichische Komponistin Olga Neuwirth. Zentral für ihre Inspiration sind Film, Fotografie und innovative Kunstgattungen, Genregrenzen akzeptiert die Komponistin ebenso wenig wie traditionelle Räume. Neue Technologien spielen oft eine erweiternde Rolle in ihrer Klangsprache ‒ auch wenn sich die Komponistin in ihrer Fanfare für das Gürzenich-Orchester auf traditionelle Instrumente beschränkt, zu denen (genau wie in George Gershwins An American in Paris!) auch vier »mechanische Hupen mit Gummiball« gehören.

      Das uns derzeit weltweit peinigende Virus findet sich zumindest im Obertitel CoronAtion V: Zusammen mit weiteren Werken für Bläserquintett mit Klavier (II) oder drei Instrumente mit Elektronik (III) ist die Fanfare Teil eines tönenden »Corona-Zyklus«, der in hygienekonformer Besetzung und Aufstellung gesellschaftliche Distanz, aber auch die Hoffnung im Hinblick auf auf die Kunst thematisiert. »Spraying Sounds of Hope“ (Sprühende Klänge der Hoffnung) sollen je drei Hörner und Trompeten, zwei Posaunen, Tuba und drei Schlagwerker verbreiten, die im weiten Raum der Kölner Philharmonie verteilt sind. Der Gestus der aufweckenden, wenn nicht sogar aufrüttelnden Fanfare wird in keinem Moment verlassen. Mit dem glanzvollen Klang der Trompeten (darunter eine hohe Piccolotrompete) und der satten Grundierung durch Hörner, Posaunen und Tuba steht das Stück in der Tradition der Jagdfanfare, die hier jedoch durch die frechen Autohupen einen Anflug von Großstadtmusik erhält.

      Olga Neuwirth ist derzeit einer der weltweit am meisten gefeierten Stars in der Komponisten-Szene. Sie gilt als mutig, experimentierfreudig, manchmal unbequem, aber stets klug und überschäumend kreativ. Ihr Studium absolvierte Neuwirth in San Francisco und Wien, ihre kreative Inspiration erfuhr sie durch frühe Begegnungen mit Adriana Hölszky, Tristan Murail und Luigi Nono. Erst 22 Jahre alt war die Komponistin, als ihr 1991 mit ihren beiden Mini-Opern nach Texten von Elfriede Jelinek der internationale Durchbruch gelang: ein Startschuss, der seither eine ununterbrochene Reihe spektakulärer Erfolge nach sich zog. So präsentierten 1998 die Salzburger Festspiele die junge Komponistin, die Wiener Festwochen brachten ein »Musiktheater« Neuwirths (wiederum nach einem Text Elfriede Jelineks) heraus. Einen der ganz großen jüngeren Erfolge Olga Neuwirths repräsentiert die umjubelte Uraufführung ihrer Oper Orlando (nach dem Roman von Virgina Woolf) im Dezember 2019 an der Wiener Staatsoper. Neuwirth war zudem die erste Frau überhaupt, die einen Kompositionsauftrag dieses berühmten Hauses erhielt. Bis heute ist es die Crème de la crème der internationalen Orchester und Festivals, die Olga Neuwirth um Kompositionen bittet, u. a. das London Symphony Orchestra, die Wiener Philharmoniker – und nun das Gürzenich-Orchester Köln.

      Michael Struck-Schloen und Volker Sellmann

Unser nächster Livestream

Sonntag, 21.02.21

Tzvi Avni
Prayer für Streicher (1961/69)                               

Felix Mendelssohn  Bartholdy 
Violinkonzert e-Moll op. 64 (1845)             

Kurt Weill 
Sinfonie Nr. 2 (1933-34)                    

Arabella Steinbacher Violine
Lahav Shani Dirigent

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