»Beethoven war ein Avantgardist«
Lieber Herr Aimard, welche Rolle spielt Beethoven in Ihrem Repertoire?
Beethoven spielte schon immer eine sehr große Rolle. Was mich sehr beeindruckt, ist die radikale Originalität seiner Ideen: Es sind die Ideen eines Avantgardisten, eines gesellschaftlichen Störers. Als Architekt seiner Musik besaß er die Fähigkeit, jede seiner Ideen in der Form und in der Dramaturgie des Stücks auf eine Weise zu platzieren, so dass sie ihre stärkste Kraft entfalten konnten. Das finde ich einfach wahnsinnig. Eine Idee, die man sich vorher nie vorzustellen gewagt hätte, entwickelte so eine unwiderstehliche Kraft: Dank der Fähigkeit Beethovens, in seiner musikalischen Sprache immer verständlich zu sein.
Das Konzertprogramm mit dem Gürzenich-Orchester ist ein Experiment. Hatten Sie Zweifel, mitzumachen?
Nie. Denn schon immer habe ich versucht, Konzertprogramme zu präsentieren, die eher experimentell sind. Ich habe sehr viele verschiedene Formate realisiert, mit Collagen und Montagen gespielt, verschiedene Klavierzyklen miteinander verschränkt. Dieses Vorgehen hat mich immer sehr interessiert. Das konnte ich vor allem als künstlerischer Leiter beim Aldeburgh Festival realisieren. Und ich bin der Meinung, dass es sehr gesund ist, sich von Gewohnheiten zu befreien. Sowohl für die Musiker als auch für die Zuhörer ist es wichtig, die Routine des klassischen Musikbetriebs hinter sich zu lassen.
Was haben Sie erst durch Musik über sich selbst erfahren?
Ich glaube, dass man Leben und Musik nicht voneinander trennen kann. Denn Kunst speist sich aus hunderten Dimensionen, und Musik wird vom Leben selbst und durch andere künstlerische Einflüsse bestimmt. Also, wie beobachtet man zum Beispiel ein Kunstwerk? Es ist immer ein Rätsel, auf das man Antworten zu finden versucht. Zum Beispiel die Verbindung zu Ereignissen, politischen oder persönlichen, künstlerische Einflüsse aus demselben Bereich oder einem anderen, dann die Dimension der globalen Kultur, der Kultur des Raums, der Zeit, der Anschauung der Welt, der Kommunikation, des Bewusstseins, der Platz des Menschen in der Welt … all dies nimmt selbstverständlich Teil an der komplexen Identität des Stücks. Man kann nichts isolieren. Pure Musik gibt es nicht, oder kaum.
Was geschieht im Augenblick des Musizierens mit Ihnen?
Immer etwas anderes. Denn Musik bedeutet im Lauf der Geschichte nicht immer dasselbe. Und genau das ist interessant zu verstehen: Was setzt sich fort und bleibt bestehen, worin bestehen die Unterschiede? Lassen Sie uns zum Beispiel die Musik einen Moment kulturell-geografisch beobachten und ihre verschiedenen Tendenzen benennen: In Deutschland »Nachdenken«, in Italien »natürlich lyrisch«, in Frankreich »verbunden mit Gehör und Vergnügen«. Diese Art der Darstellung ist etwas simpel, aber sie zeigt, dass Musik einerseits spekulativ oder unterhaltsam sein kann, sie kann aber auch streng oder, im Gegenteil, so unmittelbar sein. Das heißt, es sind nicht nur die verschiedenen Musiksprachen und Ästhetiken, die unglaublich variieren, sondern auch der Grund, warum diese Musik existiert, ist immer ein anderer. Und all diese verschiedenen Facetten fließen beim Musizieren eines Stücks in meinen Empfindungen zusammen.