Saisonschwerpunkt
Seit seinem Amtsantritt thematisiert François-Xavier Roth in seinen Konzerten intensiv die Geschichte des Gürzenich-Orchesters und die Geschichte der Musik im Rheinland. Das Gürzenich-Orchester kann auf eine bald zweihundertjährige, kontinuierliche Zusammenarbeit mit wichtigen Komponisten zurückblicken. In den vergangene Spielzeiten lag der Fokus auf Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, mit Schwerpunkten zu Johannes Brahms, Felix Mendelssohn, Robert Schumann und Hector Berlioz. Gerade die Jahrhundertwende und das frühe 20. Jahrhundert haben zu einigen spannenden Begegnungen zwischen dem Gürzenich-Orchester und großen Schöpfern ihrer Zeit geführt: Richard Strauss, Max Reger, Gustav Mahler, Erich Wolfgang Korngold - und nicht zuletzt Béla Bartók. Die Uraufführung seines Balletts »Der wunderbare Mandarin« in der Kölner Oper hat Musikgeschichte geschrieben, nicht zuletzt aufgrund des Skandals, den die Aufführung - aufgrund des als anstößig empfundenen Librettos - erregte. Béla Bartóks Musik ist aus verschiedenen Gründen faszinierend. Sie vereint die künstlerische Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln - in der Volksmusik - und avancierte Kompositionstechnik miteinander.
Klammheimlich führt Belá Bartók auch einen kleinen „ungarischen“ Schwerpunkt in der Saison 2020/21 an: Neben Bartók feiern wir auch das erste Gastkonzert des großen ungarischen Dirigenten und Komponisten Peter Eötvös, den 95. Geburtstag von György Kurtág und wir freuen uns auf eine Uraufführung von Marton Illès, einem der faszinierendsten Komponisten der jüngeren Generation. Aber hier soll nicht die Feier eines nationalen Idioms im Vordergrund stehen, sondern um das Phänomen, was in kulturellen Schmelztiegeln für spannende neue Dinge entstehen können.
Konzerte
Bartók in Köln
Ein Essay von Michael Struck-Schloen
»Köln, die von Heinrich Heine besungene Stadt der Kirchen, Klöster und Kapellen, hat den ersten wirklich großen Opernskandal erlebt. « Als hätte er es der bürgerlichen Rechtschaffenheit im katholischen Köln gar nicht zugetraut, berichtete der Musikkritiker Hermann Unger – damals noch ein Freund der musikalischen Moderne – über einen Tumult im Kölner Opernhaus am Habsburgerring. Es ging hoch her, » minutenlanges Zischen, Pfeifen, Trampeln, Pfuischreien, das sich nicht an der Anwesenheit des Komponisten stößt, und das selbst nach dem Niedergehen des › Eisernen ‹ [ Vorhangs ], als Autor und Dirigent vor die kleine Tür treten, zum Geheul anwächst, das will für uns etwas heißen. «
» Autor und Dirigent «, das waren der Komponist Béla Bartók und sein ungarischer Freund Eugen ( Jenő ) Szenkar, seit 1924 Musikchef der Kölner Oper. Und das Werk, das hier so vehement ausgepfiffen wurde, war Bartóks Der wunderbare Mandarin, eine halb getanzte, halb pantomimisch dargestellte Handlung, die das champagnerselige Publikum der Uraufführung am 27. November 1926 recht unwirsch in den Sumpf der modernen Großstadt hineinzog. Ein Mädchen wird da von drei » Strolchen «, sprich: Zuhältern, zur Prostitution genötigt. Das Geschäft läuft schlecht, bis ein reicher Chinese, der unheimliche » Mandarin «, auftaucht und sich in das Mädchen verliebt. Der Mandarin wird ausgeraubt, dreimal versucht man, ihn brutal zu töten, doch sterben kann er erst, als ihn die junge Frau zu lieben beginnt.
Menyhért Lengyel, der ungarische Journalist, Schriftsteller und nachmalige Drehbuchautor für Ernst Lubitsch ( Ninotschka ), hatte sich die sozialkritische Geschichte von einer von Gewalt beherrschten Gesellschaft erdacht, die Liebe nur noch als Ware kennt – wobei die tödliche » Erlösung « des Mandarins am Ende durchaus christliche Wundmale trägt. Kein Wunder, dass sich Béla Bartók just während des Ersten Weltkriegs für Lengyels Sujet begeisterte. Und schon der Beginn seiner Komposition mit wilden Violinläufen, über denen sich Holzbläserakkorde und Posaunensignale wie herangewehte Fetzen von Massenlärm und Autohupen zum gewaltigen Klangrausch steigern, erinnert fast programmatisch an Igor Strawinskys Skandalwerk von 1913 Le sacre du printemps. Allerdings wurde Bartóks Schaffen am Wunderbaren Mandarin durch die musikpädagogische Mitarbeit des Komponisten in der ungarischen Räterepublik von Béla Kún unterbrochen, das Werk wurde erst kurz vor der Kölner Premiere fertiggestellt. Opernhäuser in Budapest, Wien und München hatten das Stück wegen seiner inhaltlicher Brisanz, vielleicht auch wegen des enormen musikalischen Probenbedarfs, den die anspruchsvolle Partitur erfordert, abgelehnt, sodass am Ende nur Eugen Szenkar das Wagnis einer Uraufführung unternahm. Als Opernchef in Frankfurt am Main hatte er bereits Bartóks Tanzstück Der holzgeschnitzte Prinz und seine einzige Oper Herzog Blaubarts Burg in deutscher Erstaufführung vorgestellt ( der Blaubart eröffnete auch den Kölner Premierenabend des Mandarin ).
Adenauer greift ein
Man weiß, wie das Kölner Abenteuer endete. Nicht nur das Publikum, sondern auch die Presse echauffierte sich über Inhalt und Musik, die im Kölner Stadtanzeiger schon mit aggressiv-rassistischem Unterton als » Hottentottenkralsmusik « abgefertigt wurde, » die uns Bartók als die Ausgeburt eines entarteten Musiksinns bescherte. « Oberbürgermeister Konrad Adenauer war durch den Skandal und die konservativen Proteste so alarmiert, dass er Szenkar in sein Büro zitierte. » Dr. Adenauer machte mir die bittersten Vorwürfe, wie es mir eingefallen wäre, so ein Schmutzwerk aufzuführen, und forderte die sofortige Absetzung des Werkes! Ich versuchte ihn von seinem Irrtum zu überzeugen, Bartók wäre unser größter zeitgenössischer Komponist, man möge sich nicht vor der musikalischen Welt lächerlich machen! Doch er verharrte auf seinem Standpunkt. « Tatsächlich wurde die Produktion abgesetzt – eine gutsherrenhafte Entscheidung, die überregional heiß diskutiert wurde und Bartóks Werk nachhaltig schadete. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gab es nur zwei weitere Bühnenproduktionen des Wunderbaren Mandarin in Prag ( 1927 ) und in Mailand ( 1942 ), wo das faschistische Regime von dem Stück offenbar weniger ideologische Sprengkraft befürchtete als die Deutschen. Um wenigstens die Musik zu retten, hat Bartók eine Konzertsuite arrangiert, die heute zum festen Bestand im Orchesterrepertoire der frühen Moderne gehört. Für die Bühne hat er nach dem »Wunderbaren Mandarin« nie wieder komponiert.
Dabei war Bartóks Auftreten in Köln damals durchaus kein modernistischer » Ausreißer « im Konzert- und Opernleben der Domstadt – im Gegenteil. So wie Szenkar an der Oper Novitäten wie Sergej Prokofjews Liebe zu den drei Orangen oder zwei Opern des Schönberg-Schülers Egon Wellesz vor stellte, so mischte auch der städtische Generalmusikdirektor Hermann Abendroth seit Mitte der 1920er Jahre konsequent zeitgenössische Musik in die Konzerte des Gürzenich-Orchesters. Die Konservativen um Richard Strauss, Hans Pfitzner, Walter Braunfels, Ewald Straesser oder Paul Graener waren im Repertoire ebenso vertreten wie die » Avantgardisten « Paul Hindemith, Arthur Honegger, Ernst Křenek, Igor Strawinsky – und eben Béla Bartók, der nach dem Mandarin-Debakel allerdings nur noch einmal nach Köln zurückkehrte. Im März 1928 spielte er im Gürzenich den Solopart seines 1. Klavierkonzerts, das in seiner harten, neusachlichen Klanglichkeit kaum weniger sperrig wirkt als das skandalöse Bühnenstück. Danach stand fast zwei Jahrzehnte lang kein Bartók-Werk mehr auf den Programmen des städtischen Kölner Orchesters – ganz im Gegensatz zu anderen deutschen Großstädten, in denen Bartók bis 1933 regelmäßig gespielt wurde, mancherorts auch in den Jahren danach. Denn auch die Nationalsozialisten verboten Bartók zunächst nicht generell – auch wenn es ihnen übel aufstieß, dass sich der Komponist gegen die autoritäre Bevormundung der Kunst in Deutschland oder in seiner Heimat Ungarn aussprach.
Zaghafte Rehabilitierung
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab dann der neue Gürzenich-Kapellmeister Günter Wand die zwölf Jahre lang verfemte Moderne dem Orchester zurück. Seine persönlichen Favoriten waren Hindemith, Strawinsky, Bernd Alois Zimmermann und der ehemalige Kölner Musikhochschuldirektor Walter Braunfels. Etwas zaghafter hat Günter Wand das in Deutschland noch unbekannte Spätwerk des 1945 in New York verstorbenen Béla Bartók propagiert; allerdings sicherte er sich für 1947 die deutsche Erstaufführung von Bartóks 2. Violinkonzert mit dem Geiger Günter Kehr. Im Laufe der Jahre folgten die Kölner Premieren des posthum rekonstruierten Bratschenkonzerts ( 1950, mit dem Solisten William Primrose ), des Konzerts für Orchester ( 1954 ) – fortan eine vielgespielten Zugnummer im Repertoire des Gürzenich-Orchesters –, des Divertimentos und der Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta ( beide 1955 ). Relativ spät erklang die Musik des Wunderbaren Mandarin im Gürzenich, wo im November 1975 der blutjunge James Conlon die Konzertsuite dirigierte. Allerdings hatte das Kölner Publikum schon einige Jahre früher Gelegenheit, sein niederschmetterndes Urteil von 1926 über die Ballettpantomime zu revidieren. 1960 war mit Aurel von Milloss erstmals ein Tanzchef von internationalem Format ans neuerbaute Opernhaus am Offenbachplatz gekommen; der Fotograf Chargesheimer hat Milloss’ Probenarbeit mit der Primaballerina Tilly Söffing in dynamischen Aufnahmen festgehalten. Chargesheimer war als Szenograf auch an einem Ballettabend beteiligt, bei dem im September 1961 neben Stücken von Strawinsky und Prokofjew erstmals wieder der Wunderbare Mandarin zu erleben war – schon 1942 hatte ihn Milloss im faschistischen Italien herausgebracht und war seitdem ein energischer Fürsprecher des Werks. Seine zweite Blüte erlebte der Tanz in Köln dann seit den 1970er Jahren mit dem von Jochen Ulrich geleiteten Tanzforum; und Ulrich war es auch, der 1980 innerhalb eines reinen Bartók Abends eine beeindruckende Choreografie des Wunderbaren Mandarin mit dem fabelhaften Ralf Harster in der Titelrolle schuf. Niemand im Publikum echauffierte sich damals noch über die expressionistische Musik, die angesichts der Avantgarde nach 1945 längst den Status eines modernen Klassikers errungen hatte. Überhaupt schien die Zeit reif für eine Rehabilitierung des Stückes. Das bewies auch das 1985 erschienene Buch der Tanzhistorikerin Annette von Wangenheim, in dem erstmals anhand von zahlreichen Dokumenten die Kölner » Passionsgeschichte « von Bartóks Mandarin aufgearbeitet wurde. Bei dieser Lektüre kann man sich das Zusammenwirken von Publikumszorn, populistischen Pressefehden und einer Kulturpolitik ohne Rückgrat vor Augen halten, der die Freiheit der Kunst zweitrangig war. Gerade heute sollte das Schicksal von Bartóks Wunderbarem Mandarin als Mahnung gelten, wie Musik in die unseligen Mühlen der Politik geraten kann.