»Eine große Ehre«
Mit Beginn der Saison 2019/20 hat das Gürzenich-Orchester eine neue Konzertmeisterin: Natalie Chee. Die Geigerin wurde in Sydney geboren und studierte unter anderem in der Solistenklasse von Igor Ozim an der Hochschule für Musik und Theater Bern. Längst schon hat sie als Solistin wie als Orchestermusikerin eine beeindruckende internationale Karriere vorzuweisen. Nun also Köln und das Gürzenich- Orchester – beides für sie eine Liebe auf den ersten Blick.
Liebe Natalie, Dein Weg führte Dich als Konzertmeisterin der Camerata Salzburg zum SWR Sinfonieorchester nach Stuttgart. Seit September 2019 bist Du nun Konzertmeisterin beim Gürzenich-Orchester in Köln. Wie kam es dazu?
Vor etwa zwei Jahren habe ich das erste Mal beim Gürzenich-Orchester als Konzertmeisterin gespielt, und es war sofort eine große gegenseitige Sympathie da. Nachdem ich dann mit dem Orchestervorstand und einigen Musikern gesprochen habe, war mir klar, dieses Orchester ist etwas Besonderes. Es gibt einen speziellen Geist, der auch meinem Wesen entspricht. Das zwischenmenschliche Erleben und ein gutes Miteinander sind mir genauso wichtig wie das Musikalische. Und das ist beim Gürzenich-Orchester stimmig: Hier kann man sich auch menschlich wohlfühlen, und das spürt wiederum das Publikum.
Du bist als neue Konzertmeisterin »berufen« worden. Ist das nicht eher unüblich?
Ja, ich kenne nur wenige Kollegen, die auf diese Weise in eine solche Position gekommen sind. Eine Berufung ist vielleicht eher in den Niederlanden oder in Großbritannien üblich. Normalerweise bewirbt man sich auf eine Stelle, absolviert ein Probespiel, und dann bekommt man einen Vertrag für ein Probejahr. Dass ich als Konzertmeisterin berufen wurde, ist ein großes Zeichen des Vertrauens seitens des Orchesters und eine große Ehre für mich.
Mir ist ein gutes Miteinander genauso wichtig wie das Musikalische.
Natalie CheeWas hat Dich überzeugt, diese Herausforderung anzunehmen?
Als François-Xavier Roth mir die folgende Frage gestellt hat: Wovon träumst Du? Allein diese Frage hat mir gezeigt, dass es eine spannende Aufgabe werden würde. Mein Traum ist, etwas zu bewegen und Positives zu schaffen. Wenn ich Menschen mit Musik berühren kann – das bedeutet für mich Erfüllung. Hinzu kommt, dass François-Xavier Roth und ich eine ähnliche musikalische Sprache haben, das ist sehr wichtig. Ich mag seine frischen Interpretationen und dass bei ihm immer auch Freude mit im Spiel ist. Das ist etwas, das mir entspricht und das ich gerne weitergebe!
Mit dieser Entscheidung für Köln verändert sich nun auch ein weiteres Mal Dein Lebensmittelpunkt. Was gibt Dir ein Gefühl von Zuhause?
Diese Frage musste ich mir in der letzten Zeit sehr oft stellen, weil mich viele Menschen hier fragen, ob ich mich gut eingelebt habe. Tatsächlich fällt es mir nicht schwer, in Köln neu anzufangen. Denn ich habe gemerkt, dass ich dort zuhause bin, wo ich lebe. Ich glaube, es gibt Leute, die stark in ihrer Heimat verwurzelt sind und immer wieder dorthin zurückkehren möchten. Das ist bei mir anders. Vielleicht durch die Geschichte meiner Vorfahren? Mein Vater ist Chinese. Er wurde in Neuguinea geboren und kommt aus einer Familie, die an vielen verschiedenen Orten gelebt hat. Außerdem habe ich mütterlicherseits Vorfahren aus Preußen, die von Deutschland aus in alle möglichen Länder ausgewandert sind, unter anderem nach Neuseeland und Australien, wo ich aufgewachsen bin. Es scheint, dass ich davon etwas im Blut habe. Denn da, wo ich mit meiner Geige bin, fühle ich mich zuhause. Das klingt vielleicht etwas kitschig, aber es ist tatsächlich so. Ich fühle mich an dem Ort wohl, wo ich ausüben kann, was ich liebe. Und das ist jetzt Köln.
Ich bin Vollblutmusikerin, und ich will jedes Konzert so intensiv und mit Hingabe spielen, als ob es mein letztes wäre.
Natalie CheeDu trägst Deine Wurzeln also gewissermaßen in Dir und bist nicht von Orten abhängig. Gibt es denn etwas, das Du an Deiner australischen Heimat vermisst?
Es ist dieser lockere Umgang miteinander, der mir fehlt. In Australien ist es ganz normal, dass man auf der Straße miteinander spricht. Köln ist da vielleicht in Deutschland noch am ähnlichsten. Die Menschen hier sind offener und tauschen sich ebenfalls gerne untereinander aus. Das gefällt mir.
Diese Offenheit, die Du mitbringst, hilft Sie Dir in Deiner Rolle als Konzertmeisterin?
Ja, auf jeden Fall. In den letzten Jahren hat sich das autoritäre Bild des Konzertmeisters zwar bereits verändert, aber es gibt immer noch die Vorstellung, dass man sagen muss, was die anderen machen sollen und eine große Distanz herrscht. Ich bin jedoch der Meinung, dass es vielmehr ein Miteinander ist, und dass ich ein Teil von einem großen Ganzen bin. Eine meiner wichtigsten Aufgaben ist es, gut zu führen. Ich habe meistens 16 bis 20 sehr gute Geigerinnen und Geiger hinter mir sitzen, da muss ich perfekt vorbereitet sein. Wenn irgendetwas nicht klappt, dann schaue ich immer zuerst auf mich. Und frage mich, was ich machen kann, damit es besser funktioniert. Außerdem sage ich meinen Kollegen immer, dass sie sich nicht scheuen sollen, Fragen, Wünsche oder Kritik zu äußern. Denn es geht mir nicht darum, mich zu profilieren, sondern ich möchte das beste Ergebnis erzielen!
Durch Deine offene Art wirst Du zu einem bedeutenden Bindeglied innerhalb des Orchesters. Ich kann mir vorstellen, dass man sich von Dir gesehen fühlt und gerne mit Dir zusammenarbeitet …
Sich gesehen zu fühlen, ist für unsere Arbeit unglaublich wichtig. Gerade in einem Orchester, in dem es sehr viele Hierarchien gibt, ist es wichtig, jeden einzelnen Menschen Wert zu schätzen. Denn jeder Musiker im Orchester bewirkt etwas, egal wo man sitzt und welche Position man hat. Musik hat sehr viel mit Gefühlen zu tun. Sie transportiert nicht nur die Gefühle des Komponisten, sondern auch die eigenen Gefühle spielen beim Musizieren eine große Rolle.
Wie gehst Du dabei mit Deinen eigenen Emotionen um?
In Führungspositionen ist es immer eine Gratwanderung. Man muss dem Orchester dabei helfen, Gefühle in der Musik zu transportieren. Und gleichzeitig darauf achten, sich in den eigenen Emotionen nicht zu verlieren. Eine gesunde Distanz hilft mir dabei.
Gibt es so etwas wie einen Idealzustand beim Musizieren?
Wenn ich spiele schwirren mir Millionen Gedanken im Kopf herum: Von den Fingersätzen über die unterschiedlichen Tempi und das Zusammenspiel bis hin zu den Selbstzweifeln, die auftauchen können. Der schönste Zustand ist erreicht, wenn ich es schaffe, oder vielmehr wenn es einfach passiert, dass diese Gedanken mal nicht vorhanden sind. Dann konzentriere ich mich nur auf die Musik und fast alles läuft automatisch. Das sind die besten Konzerte – einfach pure Musik! Ich bin eine Vollblutmusikerin, und ich will jedes Konzert so intensiv und mit Hingabe spielen, als ob es mein letztes wäre. Doch da wir es gewohnt sind, immer etwas machen zu müssen, ist es schwer, diese Hingabe zuzulassen. Und dann auch noch zusammen mit hundert Menschen im Orchester. Doch manchmal gibt es einfach diese Momente, von denen jeder danach sagt, dass es eine außergewöhnliche Dynamik im Saal gegeben hat!
Hast Du diese Magie auch schon mit François-Xavier Roth und dem Gürzenich-Orchester erlebt?
Auf jeden Fall! Ich würde sagen, dass es eine große Rolle spielt, mit wem man musiziert. Und wenn man Vertrauen ineinander hat, dann geht vieles einfacher. Ich vertraue François sehr und ich glaube, er mir auch. Deswegen kann ich bei ihm loslassen und muss nicht immer alles hinterfragen, sondern kann einfach machen. Ich habe meine erste Wagner-Oper letzte Woche gespielt und war natürlich etwas nervös, aber das war genau so ein Erlebnis: Das war vom ersten bis zum letzten Ton einfach super!
Was ist für Dich das Besondere an der Oper?
Es ist etwas ganz anderes als ein Konzert zu spielen. In der Oper beschäftigt man sich natürlich viel länger mit einem Stück, aber vor allem muss ich lernen, Kontrolle abzugeben. Mit den Sängern, der Regie und den unterschiedlichen Besetzungen gibt es in der Oper so viele Faktoren, die ich nicht beeinflussen kann. Ich muss lernen, dass ich meinen Part so gut mache, wie ich kann und für alles andere die Verantwortung abgeben. Das ist eine neue Herausforderung und ein unglaublich gutes Training.
Was verbindet Dich mit der russischen Musik?
In Australien ist russische Musik allgemein sehr populär, und als Kind habe ich es geliebt, sie mit meinem rumänischen Geigenlehrer zu spielen. Später habe ich dann die Wiener Klassik kennengelernt und heute würde ich sagen, dass ich mich mehr mit der deutschen Musiksprache identifiziere, mit ihren Strukturen, mit ihrem Klang. Denn Musik hat sehr viel mit Sprache zu tun. Die russische Musik ist, wie die Sprache, einfach viel emotionaler. Hinzu kommt, dass Prokofjew einer meiner Lieblingskomponisten ist! Denn als Kind habe ich sein Ballett Romeo und Julia in der Oper in Sydney gesehen und war sehr bewegt von seiner Musik, obwohl sie nicht gerade eingängig für ein Kind zu sein scheint. Aber dank dieser frühen Erfahrung erlebe ich diese Verbindung zu Prokofjews Musik immer noch als sehr intensiv! Ich finde ihn einfach genial. Seine »Klassische Sinfonie« ist unglaublich gut geschrieben. Skrjabin hingegen spiele ich heute zum ersten Mal im Konzert! Es ist insgesamt ein wuchtiges, sehr packendes Programm. Und mit Kitajenko habe ich bereits zweimal beim Gürzenich-Orchester zusammengearbeitet. Deswegen freue ich mich besonders auf dieses Wiedersehen!