Ein Gespräch mit Ivor Bolton zum Konzert »Tiefenscharf«
Als ich Ivor Bolton 1997 zum ersten Mal im Operngraben erlebte – mit Claudio Monteverdis Krönung der Poppäa im Münchner Prinzregententheater –, gehörte er noch zu den Spezialisten für Alte Musik, die ihre Kenntnisse mit Verve auch modernen Orchestern zu vermitteln verstanden. Damals war der Mann aus der Nähe von Manchester 39 Jahre alt und hatte eine typisch englische Dirigentenkarriere hinter sich: Studium am Clare College im Cambridge und am Londoner Royal College of Music, Korrepetitor am Nationalen Opernstudio und beim Opernfestival in Glyndebourne, dann zwei Jahre lang Chefdirigent beim Scottish Chamber Orchestra. Bolton schien ein Tausendsassa auf allen Podien, wo man erfahrene Barockdirigenten brauchte. Aber spätestens mit seiner Wahl zum Leiter des Mozarteumorchesters in Salzburg (2004-2016) wurde klar, dass er sich stilistisch nicht festlegen lassen wollte. Neben Mozart und Haydn rückte auch Bruckner ins Zentrum, in der Oper bewies Bolton als Musikchef am Teatro Real in Madrid (seit 2015) ein breites Spektrum – vor allem hat er sich immer wieder dem Musiktheater von Benjamin Britten gewidmet. Am 19. September leitete er in Madrid die Spielzeiteröffnung mit Luigi Cherubinis Oper Médée und hatte während der Endproben Zeit für ein Gespräch über das Programm »Tiefenscharf« mit dem Gürzenich-Orchester.
Ist es Ihr erster Auftritt mit dem Gürzenich-Orchester?
Oh nein, in den 1990er Jahren gab es mehrere gemeinsame Konzerte, mit sehr unterschiedlichen Programmen von Beethoven und Mozart bis hin zu Olivier Messiaen. Dann haben wir ein bisschen den Kontakt verloren, vielleicht, weil ich mich verstärkt dem Mozarteumorchester in Salzburg gewidmet habe und damit ziemlich »busy« war.
Seit acht Jahren sind Sie Chefdirigent am Teatro Real in Madrid, am 19. September steht die Premiere von Luigi Cherubinis »Médée« ins Haus – ein Stück, das man vielleicht vergessen hätte, wenn es Maria Callas nicht gesungen hätte.
Das Werk hatte bei der Uraufführung in Paris, damals noch mit gesprochenen Dialogen, einen schlechten Start. Aber im 19. Jahrhundert war es gerade in Deutschland beliebt, Richard Wagner hat es sehr bewundert. Im Grunde liegt Médée auf der Linie von Rameau über Gluck bis hin zu Berlioz – ein packendes Stück, für das man mit dem Orchester auch hart arbeiten muss.
Musik und Kommerz
Die Premiere der »Médée« war 1797 – zeitlich zwischen der Sinfonie Nr. 95 von Haydn und der Sechsten Sinfonie von Beethoven, die Sie mit dem Gürzenich-Orchester aufführen.
Das war in der Tat eine spannende Zeit! Dabei gehört Haydns Sinfonie c-Moll gar nicht zu den berühmtesten Londoner Sinfonien – was man auch daran sieht, dass sie keinen populären Beinamen trägt wie »The Miracle« oder »Die Uhr«. Die Nr. 95 ist seine einzige späte Sinfonie in einer Moll-Tonart, und sie hat beim ersten Hören auch eine Menge Parallelen zu den früheren »Sturm und Drang«-Sinfonien.
Sie klingt fast ein bisschen altmodisch …
Der erste Satz vielleicht, aber der langsame Satz ist schon sehr dramatisch und großartig gebaut: das hat alles eine unglaubliche Logik und Folgerichtigkeit, wie überhaupt beim späten Haydn. Ich habe das Stück dem Orchester vorgeschlagen, und wir haben dann, ausgehend von c-Moll, ein Programm zusammengestellt, das ein bisschen die dunkle Seite und gedeckten Emotionen von Musik betont.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Haydn und Mozart so wenige Sinfonien in Moll geschrieben haben?
Tatsächlich hat Haydn in den 1760er und 1770er Jahren einige Moll-Sinfonien komponiert. Aber vielleicht wollte der Konzertmanager Johann Peter Salomon, der Haydn nach London engagiert hat, eher optimistische Musik, um den Markt zu erobern. Aber das ist nur eine Vermutung.
Hatten die Moll-Tonarten mit den Orchestern der Zeit vielleicht einen anderen, spannungsvolleren Charakter als heute?
Wenn Sie genau intonieren und mit weniger Vibrato spielen, muss man genau überlegen, wie man die Instrumente stimmt, wie groß etwa die Terzen sind – das hat schon einen Effekt auf den Charakter. Dann kommt hinzu, dass das Publikum im 18. Jahrhundert vielleicht die Musik der vergangenen fünfzig Jahre kannte, aber nicht dieses riesige Repertoire vom Barock bis zur Moderne, das heute in Konzerten gespielt wird. Zwar hat schon Mozart Werke von Händel neu arrangiert, aber erst im 19. Jahrhundert haben Komponisten wie Mendelssohn begonnen, Bach und andere »historische Musik« im größeren Stil wiederzuentdecken. Heute erwartet man von den Orchestern, dass sie Musik von Bach bis zur Gegenwart spielen können, manchmal im selben Konzert.
Wenn man heute Haydn spielt, muss man auch über die Größe damaliger Orchester nachdenken. In London hatte er offenbar bis zu 44 Musiker zur Verfügung – eine ziemlich üppige Besetzung.
Ich glaube, das hatte auch kommerzielle Gründe, denn London war damals ein Vorreiter für die Vermarktung von Musik. Das Musikleben wurde nicht mehr, wie auf dem Kontinent, von Fürsten oder Königen bezahlt, sondern von Impresarios wie Salomon organisiert und finanziert – oder von Gesellschaften wie der Royal Philharmonic Society, die Werke wie die Neunte Sinfonie von Beethoven in Auftrag gab. Diese Entwicklung setzte schon mit Händel ein, der in London als Unternehmer auftrat und natürlich auch die Probleme und Zusammenbrüche kannte, die man mit kommerziell ausgerichteten Kulturbetrieben riskierte. Dass er abhängig war von der wirtschaftlichen Konjunktur und vom Wohlwollen des Publikums, sieht man schon daran, dass seine späten Opern im Orchester immer sparsamer besetzt sind – aus dem schlichten Grund, dass die Sängerinnen und Sänger immer teurer wurden und er deshalb bei den Musikern gespart hat.
Idylle und Katastrophe
Am Schluss des Konzerts steht Ludwig van Beethovens Sechste Sinfonie – ein Stück, das nur fünfzehn Jahre nach Haydns c-Moll-Sinfonie entstanden ist und dennoch eine Art musikalischen Quantensprung darstellt.
Beethoven hat die alten Formmodelle in der Sinfonie völlig neu gedacht. Schon die Ausmaße der Sätze übersteigen alles bei Haydn, Beethovens Tonsprache ist unglaublich dynamisch und überhaupt nicht mehr gefällig. Und man weiß, dass die Orchestermusiker seiner Zeit schockiert waren über die Schwierigkeiten ihrer Stimmen – Beethoven ist auch da immer wieder an Grenzen gegangen. Die Sechste Sinfonie ist gewissermaßen eine Ausnahme, weil sie dieses Programm einer »pastoralen« Sinfonie hat, das damals ziemlich beliebt war. Aber mit Ausnahme des »Gewitters«, das er im vierten Satz fast naturalistisch vertont, ist das keine illustrierende programmatische Musik, sondern eher eine ganz individuelle Gestaltung musikalischer »Stimmungen«. Im Vergleich zur Fünften Sinfonie, die mit unglaublich pathetischen Gesten und einer Entwicklung vom Konflikt bis zum Triumph auftritt, ist die Sechste viel delikater gearbeitet.
Das Thema der Sechsten Sinfonie ist die Natur. Welche Haltung hatte Beethoven zur Natur?
Ich glaube, dass Natur um 1800 generell eine größere Herausforderung für die Menschen war als heute, und eine misslungene Ernte bedeutete für viele eine lebensgefährliche Bedrohung. Heute glauben wir, dass wir die Natur gezähmt haben. Aber das stellt sich mehr und mehr als Irrtum heraus, man muss nur die Folgen des Klimawandels und die aktuellen Katastrophen in Marokko oder Libyen ansehen.
Viele Komponist*innen von heute gehen in ihren Werken auf diese Katastrophen und die düstere Perspektive des Klimawandels für die Menschheit ein. Hat Beethovens in seiner »Pastorale« auch die Bedrohungen gestaltet, oder ist es eher eine Idylle?
Das hängt auch von der Interpretation ab. Ich glaube, wenn man die Musik so lebendig wie möglich angeht, kann man die Idylle aufbrechen. Wir haben von der historischen Aufführungspraxis auch für die modernen Orchester viel gelernt: Man kann den Ton rauer gestalten und die Musik auf ganz andere Weise „sprechen“ lassen. Gerade François-Xavier Roth hat in Köln gezeigt, wie man die Gestaltung von Klang und Gestik intelligent verändern kann.
Ein schwieriger Charakter
1976 ist Benjamin Britten in Aldeburgh gestorben, da waren Sie 18 Jahre alt.
Ich erinnere mich, dass ich gerade in Cambridge mit dem Studium begonnen hatte, als die Todesnachricht kam. Damals hatte ich schon Verbindungen zum Britten-Festival in Aldeburgh, als Begleiter am Klavier und am Cembalo, später habe ich dann beim Festival Mozarts Così fan tutte dirigiert und die letzte Meisterklasse seines Lebenspartners, des Tenors Peter Pears, am Klavier begleitet, kurz vor seinem Tod.
Britten war der bedeutendste englische Komponist der Nachkriegszeit, vor allem durch seine Opern. Persönlich war er wohl eher schwierig …
Er war ein sehr strenger, anspruchsvoller Mensch – und nach allem, was man hört, kein einfacher Charakter. Wer ihn irgendwie verletzte, konnte von jetzt auf gleich aus dem Kreis seiner Anhänger verbannt werden. Das ist John Pritchard passiert oder dem Librettisten Eric Crozier – vor allem kannte Britten kein Pardon, wenn es um die Aufführungen und Durchsetzung seiner Werke ging. Ich habe viele Opern von ihm dirigiert, Billy Budd und Peter Grimes in Madrid, Albert Herring in Salzburg oder die Fernsehoper Owen Wingrave in Glyndebourne – ein faszinierendes musikdramatisches Spektrum!
Wenn wir als Beispiel das »Nocturne« für Tenor und kleines Orchester nehmen, das Sie in Köln dirigieren werden: Wo liegen die Stärken von Brittens Musik?
Auf jeden Fall in der bildhaften und farbigen Umsetzung der Gedichte, aber auch in seinem Gespür für den Sprachklang. Nocturne ist ein Zyklus von acht englischen Gedichten, die um das Nächtliche kreisen und vom Tenor Andrew Staples gesungen werden. Begleitet wird er von einem Streichorchester, aber außerdem ordnet Britten den meisten Gedichten noch jeweils ein Blasinstrument, Pauke oder Harfe zu. Das ist äußerst brillant gelöst und sehr berührend, aber es verrät in jeder Note auch Brittens unglaubliche Professionalität im Umgang mit den Instrumenten. Er war ein meisterhafter Orchestrierer, nichts bei ihm ist zufällig! Und ich glaube, dass Texte ihn besonders inspiriert haben, diese Meisterschaft auszuspielen.
Das Gespräch mit Ivor Bolton führte Michael Struck-Schloen